Windes Muse
Der Wirbel bewegte sich langsam vorwärts. Schneckengehäusemässig sozusagen. Als taste er sich Meter für Meter vor. Er schien fast besorgt. So als hätte er Angst,
etwas mit seiner unbändigen Kraft zu zerstören. Manchmal passierte das auch. Aber eben nur manchmal. Dann zuckte er einige Zentimeter zurück, als ob er erschräke, um danach zögerlich seinen Weg
wieder fortzusetzen. Dort waren es ein paar Mülltonnen, die er kraftstrotzend ein paar Meter in die Höhe warf, um sie dann wie ein spielendes Kind einen nach dem anderen wieder fallen zu lassen.
An anderer Stelle lüpfte er das Dach des Verwaltungsgebäudes vom örtlichen Schweinemastbetrieb (womit ausnahmsweise nicht die Dorfkneipe gemeint ist) und setzte es zwei Meter weiter sanft wieder
ab. Auf das Dach des Streifenwagens ließ er in genüßlicher Langsamkeit die stolze vierhundertjährige Linde aus Seppls Biergarten sinken, um danach mit einem Riesensatz in des Bürgermeisters
Vorgarten zu springen. Dort ähnelte der Rasentraktor schon bald eher einem Kampfroboter aus einem SciFi, dem die Batterie allllleeeeeeeeeeeeee gegangen ist, denn dem männlichen Deutschen so ans
Herz gewachsenen vorgartentauglichen Nutzfahrzeug.
Der zufällige Beobachter, so er sich so nah an einen Wirbelsturm heranwagte, hätte nach einer Weile sicher kopfschüttelnd den Verdacht gehegt, entweder einem
beseelten Sturm, einem Wesen mit Vernunft und Gefühl gegenüber zu stehen - einem Wesen, das Stück für Stück eine imaginäre Liste abarbeitete - oder er hätte sich gefragt, ob er nicht doch vor dem
Nachhausewanken auf das letzte Bier in Seppls Biergarten hätte verzichten sollen. Vielleicht hätte er sogar Stimmen vernommen oder Tags drauf den Typen vom Fernseh jeden Eid geschworen, ein
Leuchten aus dem Inneren, dem Auge des Sturms gesehen zu haben.
Doch es war Nacht in Hintertupfingen. Die Wolken hatten dem Mond am späten Nachmittag die Sicht auf die Erdoberfläche verbaut und der Besoffene war schon vor einer
Stunde von Laterne zu Laterne gewankt. Somit war in diesem Fall das Zeugenschutzgesetz ohne jeglichen Belang. Niemand Nichts gesehen. Niente.
Nur der graue Transporter mit den Antennen auf dem Dach, der seit der Dämmerung auf dem Behindertenparkplatz vor dem Rathaus stand, hätte Jemandem auffallen können -
oder sollen.
Tat es aber nicht.
Eigentlich schade, denn dadurch verschwand der Spuk unbemerkt, fiel plötzlich am Ortsschild saft- und kraftlos in sich zusammen. Als hätte der Sturm beim Entziffern
des: "Hintertupfingen dankt für ihren Besuch, beehren sie uns bald wieder!" ein schlechtes Gewissen bekommen und wäre vor Scham augenblicklich in den Erdboden versunken.
So aber stieg kurz nach vier Uhr nur Achmet Müller-Terem, ein ambitionierter und gerade äußerst zufriedener Physikstudent samt Rucksack mit einigen interessanten
technischen Spielereien aus dem geparkten Transporter in einen mit laufendem Motor wartenden Lieferwagen um und verschwand samt der seltsamen Antennen.
Am nächste Morgen schien die Sonne auf ein etwas verändertes Stadtbild, samt den Fingern einiger erschrockener und erstaunter Bewohner, die sich zuerst ungläubig die
Augen rieben, um dann zünftig und unwiederholbar zu fluchen.
Die Versicherungen bezahlten anstandslos den Schaden der betroffenen Bürger.
Bis zur technischen Serienreife des sogenannten Schauberger-Meteostimulators und der Nobelpreis-Nominierung für dessen Erfinder gingen noch ein paar Jährchen ins
Land. Zu diesem Zeitpunkt erinnerte sich niemand mehr an den seltsamen Transporter und den Namen des Dönerladenbesitzers, dessen hakenkreuzverschmierte Fensterscheiben so oft zu Bruch gingen, bis
er aufgab und seine Schulden mit in die nächste Stadt und die nächsten fünfzehn Jahre seines ärmlichen Lebens nahm.
Ausser natürlich sein Sohn, der frischgebackene Preisträger. Der besuchte am Morgen nach den mysteriösen Vorgängen das Grab seines Vaters und hatte diesem, was
natürlich auch Niemand registierte, viel zu erzählen. Am Grab, wie auch im Leben danach hörte man ihn oft lachen und seine Freunde wunderten sich, dass ihr Achmet sich von einem schweigsamen und
ernsten Menschen, dessen Leben bislang ein unerquicklicher ewiger Kampf schien, über Nacht in einen lebenslustigen und weltoffenen Wirbelwind verwandelt hatte.