Frau Holle
Die Frau, die den gnädigen Mantel des Schweigens über mißlungene Nächte ohne Liebreiz legt, war schon zu alten Zeiten Frau Holle. Still und friedlich wird es, wenn sie die Decken ausschüttelt. Jungfräulich wirkt die Welt, wenn sie den Schnee wie zarte Watte übers Land legt. Und kalt. Kalt in den Herzen und zwischen den Gebeinen der Eheleut. Stumm und kalt.
Schuld daran ist jedoch nicht sie. Früher genauso wenig wie heute.
Schuld sind auch nicht die Eheleut in ihrer Schmach. Nicht die weinenden Kinder, die ihnen die wenigen Nächte der ehelichen Lust solange unterbrechen, bis sie selbst diese seltenen Gelegenheiten ungenutzt verstreichen lassen. Schuld ist Niemand.
Der stirnrunzelnde Leser liest richtig. Niemand.
Aloisia Luise Niemandibularis-Brechreiz zu Woolworth Heumagen.
Kurzform: Niemand!
Und das kam so: Als eines Tages eine selbstgefällige Mutter ihre fleißige und überaus reizvolle Tochter an des Metzgers Sohn verheiratete, um ihrer zweiten, wie sie eingebildeten, doch weit weniger herzigen und schönen Tochter die Partie mit dem Sohn des Stadtkämmerers zu sichern, rechnete sie nicht damit, dass die holde, scheinbar unvorteilhaft bedachte Jungfrau mit dem Metzgersohn durchaus mehr als zufrieden war.
Denn diese Beiden hatten sich schon geraume Zeit allabendlich unter dem Hollerbusch hinter dem Stall getroffen und heiße Küsse ausgetauscht. Der Metzgersohn küsste nämlich ohne H und wie ein junger Gott! Nie hätten sie es sich zu träumen gewagt, dass die ehrgeizige Mutter einer ihrer Töchter die Heirat mit einem einfachen Dorffleischer erlauben würde.
Ihre Freude und Lust kannte keine Grenzen und sie liebten sich so heftig in der Hochzeitsnacht, dass die Federbetten platzten und der Hollerbusch, unter dem sie sich einst nur scheu küssen durften, nun unter ihrem Schlafgemach lag und am Morgen nach der Vermählung mit weißen flauschigen Federn überzogen war. Manche sagen, dass ein Teil Federn rot gewesen sei. Doch das lag wohl nur daran, dass des Metzgersohnes Mutter die Federn schon vor Sonnenaufgang aus dem Blutwursttrog wischte, der am Brunnen neben dem Hollerbusch lehnte, bevor sie diesen mit frischem Wasser auswusch.
Wahr ist, dass die glückliche Maid von ihrem jungen Manne in solch unglaubliche Fleischeslust getragen wurde, dass ihr Hören und Sehen verging und ihr danach war, als ob sie gerade aus den tiefsten Tiefen eines Brunnens aufgetaucht war. Für sie und ihren neugebackenen Mann jedesmal aufs Neue ein Jungbrunnen wie er im Buche steht.
Doch für ihre Schwester, die nur zwei Häuser weiter missmutig und schroff ihre Kammerzofe zurecht wies, wenn diese die strohigen Haare ihrer Herrschaft Knoten für Knoten lösen musste, war das Glück der Schwester ein wachsendes Ungemach. Vom rüpelhaften Sohn des Kämmerers im Schlafgemach zugunsten einer Mätresse verschmäht, wusste sie sich keinen Rat und stürzte sich eines trüben Herbstmorgens in den Brunnen und ward nie wieder unter den Lebenden gesehen.
Das kam daher, dass gerade am vorigen Abend Freifrau Aloisia "Fielnam" Niemand ihre Brille vergessen hatte und die leeren Säcke der vom Metzger zu schlachtenden Hühner statt in ihren Handkarren in den Brunnentrog warf und ohne ihre Augengläser nicht mehr wiederfand. So versank die von ihrer Mutter zum luxuriösen Unglück Gezwungene beim Sturz unter das Sackleinen. Sie wurde erst gefunden, als im Sommer der Wasserspiegel so weit sank, dass der Metzgermeister die seltene Chance nutze, um mit einer Holzleiter hinab zu steigen, um den Brunnengrund von Unrat zu befreien.
Da Frau Niemand nicht einer Bluttat bezichtigt werden wollte, die sie nicht begangen hatte, verwob sie die bekannten Tatsachen mit den umhergeisternden Gerüchten um die beiden Schwestern und hieß ihren Schreiber, dies nieder zu schreiben. Zum Beweis fügte sie Bilder des federüberzogenen Hollerbusches samt dem darüberliegenden Fenster hinzu. Schon bald wurde die erstaunliche Geschichte von den Minnesängern, den Papagallos und Sensationsreportern dieser Zeit, in alle Thronsäle des Kontinents getragen und fand so - Niemand sei Dank - Eingang in die reiche Märchenwelt unserer Vorfahren.
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